Würdigungen
Mezzanin-Theater "TARTE AU CHOCOLAT"
Jeder weiß, wie man einen Kuchen backt, zumindest theoretisch. Über diese Theoriekenntnisse verfügt auch das hoch motivierte Publikum in der Produktion Tarte au Chocolat. Die Verwendung des französischen Namens verspricht, dass es sich bei seiner Herstellung um ein gut gehütetes Geheimnis der Küchenalchemie handelt. In Tarte au Chocolat treten Erwin Slepcevic und Jean Paul Ledun nun gemeinsam an, dieses Geheimnis zu lüften. Statt in sturer Nachfolge eines bestehenden Rezepts soll die Tarte jedoch gemeinschaftlich hergestellt werden. Kooperation und Koproduktion - zwei der höchsten Werte des Freien Theaters mischen in dieser Tarte-Herstellung aufs vehementeste mit und sorgen für reichlich Missverständnisse, Sabotage und Eskalation. Denn die wahre Lust an der Chemie der Küche und des Theaters besteht in der Brechung bestehender Regeln – auch wenn oder gerade weil man nicht weiß, was am Ende dabei herauskommt. Auch die Tarte au Chocolat von Slepcevic und Ledun mutiert darüber zur kritischen Masse“. Aller beschworenen Magie zum Trotz bleibt ihre erhoffte Mutation am Ende aus und es siegt dann doch die alt bekannte Hausfrauenrezeptur, aber gut geschmeckt hat es trotzdem!
Zweite liga für kunst und kultur "M – EINE STADT SUCHT IHRE MITTE"
Die Zweite liga für kunst und kultur überfordert in einer unterspannten Performance mit einer Fülle an strategischem und ideologischem Material, das jede denkbare Referenz bemüht und die ZuschauerInnen dabei bewusst unerlöst zurücklässt. Auf der Folie des Marilyn Monroe Klassikers Wie angelt man sich einen Millionär“ werden in einer improvisierten Szenenfolge die verzweifelnden Aufstiegsbemühungen einer verschwindenden Mittelschicht gezeigt. Das bewusste Scheitern der Produktion ist ein Scheitern der Figuren und so gesehen die perfekte Depressionsinszenierung. Das Publikum wird zu einer Party depressiver Maßlosigkeit gebeten und begibt sich in dieser an einen Fortsetzungsroman erinnernden Studie mit warmen Sekt und Salzstangen auf eine intellektuelle Kaffeefahrt, die einen statt mit dem angekündigten Sherry mit einem billigen Kirschlikör in die Unterschicht entlässt.
Theater im Bahnhof "ZWISCHEN KNOCHEN UND RAKETEN"
Zwischen Sonne und Stahlwerk erfand das Theater im Bahnhof die Freiluft-Porno-Komödie. Was ist das besondere an dieser Komödie? Sie öffnet Räume und schafft Weite. Diese Räume sind durchaus physisch zu verstehen. Wir blicken in die Weite der steirischen Landschaft – und in die untergehende Sonne. Dabei haben wir die Freiheit, mit papiernem Sonnenschutz das Blickfeld selbst zu bestimmen. Die physische Freiheit übersetzt sich in eine Entscheidungsfreiheit für den Zuschauer. Die Spieler sind optisch in einer angenehmen Distanz, die durch die sinnliche Nähe des vorproduzierten Hörspiels konterkariert wird. So wird das Prinzip des Pornos, die Nah-Aufnahme und die Beweisführung des Cumshots, umgedreht. Der diskrete Porno ist geboren. Dieser Porno findet in einer riesigen Wohnung von 70.000 qm statt, in denen die ehemaligen Sowjetrepubliken Platz finden. Dahinter fahren Autos mit österreichischen Kennzeichen vorbei. Territoriale und persönliche Identitäten überlagern einander. Das tragische Potential der Komödie entsteht durch neue Kontexte: die BesucherInnen der Wohnung müssen enorme Entfernungen in der Agrarlandschaft zurücklegen; Pornodarstellerinen diskutieren postmoderne Philosopheme, intime Handlungen werden auf freiem Feld vollzogen. Dabei werden uralte Komödienmechanismen ins Landschaftstheater transferiert: Der Liebhaber sucht nach einem Versteck vor dem Ehemann. Und da auf Feldern keine Kleiderschränke stehen, legt er sich einfach ins Gras und ist tatsächlich verschwunden für die Augen des Zuschauers. Volkstheater in einem ganz ursprünglichen Sinn. Theater am Bahnhof arbeiten mit einer angenehmen Transparenz der Mittel –trefflich symbolisiert durch die Nylonstrümpfe der Männer –, die dem Zuschauer viel Freiheit lässt. Die Komödiendramaturgie führt nicht zu der vorhersehbaren Eskalation, und die Pornomechanik endet nicht im Gruppensex. Das Stück findet zu einem beinahe unwirklichen Schäferidyll mit gemeinsamer Mahlzeit und kitschigem Gegenlicht. Frieden zwischen Knochen und Raketen.
@tendance Tanztheater "A LINE DRAWN"
Das politisch motivierte tanztheaterstück A LINE DRAWN beschäftigt sich mit körperlichen und territorialen Grenzziehungen. Als spannendes Ausgangsmaterial dienen Richtungsanweisungen eines GPS-Gerätes, die die Tänzerin Christina Medina inhaltlich an die Grenze zwischen Nordamerika und Kanada, an die Grenzen zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit und schließlich zur Frage von selbst- und fremdbestimmter Bewegung führt. Der choreografisch spannende Ansatz verläuft sich wörtlich genommen in einer psychologischen Erzählung und Ausdeutung, die die eigenen Imaginationsräume oft zu früh und zu stark begrenzt. Also wieder eine Frage der Grenzziehung?
Gruppe Dagmar "IPÖ – IHRE PARTEI ÖSTERREICH"
Das Timing stimmt: Rechtzeitig zum Grazer Wahlkampf gründete die Gruppe Dagmar die IPÖ – Ihre Partei Österreich, und reanimiert sie nun zur Nationalratswahl. Ihr jugendlich-glattes Erscheinungsbild mag an real existierende Vorbilder erinnern. Die fünfköpfige Partei ist basisdemokratisch organisiert mit fünf SpitzenkandidatInnen, die sich gegen ihre eigene Politikverdrossenheit zu politischem Engagement entschlossen haben. Der Aufführungsort ist geschickt gewählt: Das Wasserwerk verhindert als städtisches Gebäude jegliche Theateranmutung und schafft Politiknähe, die durch die Begrüßung der Zuschauer durch die um Stimmen werbenden Wahlkämpfer verstärkt wird. Leider wird das Feld der realen Politik nicht weiter beackert, die Konflikte zwischen den Figuren sind rein privater Natur. Und auch die Frage, was mit Menschen passiert, die ihr persönliches mittelständisches Leben mit Mitteln des politisches Diskurses zu organisieren versuchen, verflüchtigt sich in der Comedy-Mechanik: Szenen im Büro. Und hier findet die Gruppe zu sich: Diese Alltagscomedy englischer Prägung präsentiert sie mit sicherem Timing und gelungenen Pointen. Nur der Wahlkampf ist vorzeitig versandet.
christian winklers lonley project "ALYONA"
Ein starker Beginn mit einem klassisch anmutenden Theaterlied, das durch seine Instrumentierung mit Elementen von Pop und Folk verfremdet wird. Drei singende Frauen mit klaren, schönen Stimmen und drei männliche Musiker mit Bass, Akkordeon und Percussion sorgen für einen skurrilen Einstieg. Die gespenstische Atmosphäre mit viel Geheimnis verweigert sich den gängigen Theatermoden und macht neugierig. Die drei Frauen leben in einem vereinsamten Schlachthof, dessen Boss zu Tode gekommen ist. Wie ein vierter Mitspieler oder eine geheime Schuld scheint er die Frauen an diesen Ort zu binden. Diese eigenwillige Setzung der Grundsituation ist bewusst gewählt: Alyona“ wirkt wie ein Versuch, ein möglichst parabelhaftes Theater zu erfinden, ohne konkrete Referenz, ohne soziale Einordnung. Darin ist der Abend bestechend konsequent. Aber er zahlt seinen Preis: Er findet nicht zu einer Konkretisierung, sondern bleibt im Allgemeinen und rettet sich aus der Unverbindlichkeit in eine psychologische Figurenzeichnung, die dem Modellhaften der Grundanlage widerspricht. Die gelungene Darstellung der Ortlosigkeit führt ihrerseits zu einer Ortlosigkeit des Theaters. |